Erfahrungsberichte und Lebensgeschichten

Mein Name ist Sebastian,

ich bin Alkoholiker und Spieler und vieles mehr, also durch und durch süchtig.

Im Grunde genommen ist die Frage für mich mittlerweile sehr einfach zu beantworten. „Mittlerweile“, da ich lange und viele 24 Stunden im „Programm“ der Anonymen Gruppen gebraucht habe, um es für mich selbst zu verstehen und zu akzeptieren.

Der Trick war dabei, einfach immer wieder zu kommen. Es ist eine Reise des Lebens, welches mein Leben lebenswert macht, indem ich lerne es zu meistern. Ich lerne mich selbst kennen und erfahre was es bedeutet im Frieden mit mir und der Umwelt zu sein, im Inneren sowie im Außen. Ich lerne nicht mehr zu kämpfen, sondern zu akzeptieren. Ich lerne meine Ichbezogenheit abzulegen und nicht alles auf mich zu beziehen. Ich sehe und spüre mein Selbstbewusstsein in mir selbst wachsen und lerne dies nicht mehr von meinem Umfeld durch Anerkennung und Verbrüderung zu suchen. Ich lerne trotz Harmoniebedürftigkeit nicht mehr everybodys Darling sein zu müssen oder sein zu wollen.

Ich lerne Fehler machen zu dürfen, nicht der Fehler zu sein. Ich lerne, was Demut ist, und dass sich die Welt nicht um mich dreht, sondern ich mich mit anderen in ihr.

Ich lerne was verzeihen und loslassen ist. Ich lerne, was Dankbarkeit ist. Ich lerne, was Zufriedenheit bedeutet und, dass Glück ein flüchtiges Gefühl ist, ebenso wie negative Gefühle.

 Ich lerne und erfahre, dass Glück und Trauer oder unschöne Gefühle vorbei gehen, wenn nicht heute, dann morgen. Ich lerne, wie wichtig es ist in kleinen langsamen Schritten voranzugehen, im Gegensatz zu meinem Eigenwillen, der alles sofort und jetzt befriedigt haben möchte, mein persönlicher Kontrollverlust. Ich lerne mich zu akzeptieren, wie ich bin, mit oder gerade wegen ALLEN meinen Eigenschaften, sowohl die guten als auch die schlechten. Ich lerne, mich auf die guten zu fokussieren und die schlechten weniger werden zu lassen. Ich lerne zu Vertrauen in mich und eine Höhere Kraft in diesem Universum. Ich lerne mehr zu geben, als zu nehmen.

Aber all dies ist nur Beiwerk. Es beantwortet noch nicht die Frage „warum gehe ich regelmäßig zum Meeting?“

Die Antwort ist, weil ich an einer tödlichen Krankheit leide und etwas dagegen bzw. dafür tun muss, gesund zu bleiben. Und leider vergesse ich zu schnell, oder lasse mich zu leicht von meinem Eigenwillen und meinem Ego leiten dies zu vergessen. Wenn es mir schlecht geht, wollte ich das Gefühl lieber mit Alkohol betäuben als es anzunehmen oder etwas dagegen zu tun. Dies hätten ja auch meine kompletten Gründe zerstört im Selbstmitleid baden zu dürfen und dadurch mein (Trink)Verhalten zu rechtfertigen. War das negative Gefühl betäubt, war ich jedoch immer noch nicht glücklich, mir war einfach nur erst mal alles scheiß egal. Mein Glück suchte und suche ich auch heute noch in allem, was mir Adrenalin und Endorphine ausschüttet. Der Gewinn am Automaten nach langer Verluststrecke. Netflix und YouTube blindging.

Karussell fahren auf dem Jahrmarkt. Der beste zu sein in einem Handyspiel. Die Tafel Schokolade oder der Becher Eis, der Zucker im Kaffee, überhaupt zu viel Kaffee. Der Teller beim Abendessen, der leer sein muss, obwohl ich vielleicht schon längst satt bin. Die Überstunden und das vernachlässigen der Mittagspause auf der Arbeit. Das lange suchen nach dem richtigen Pornofilm auf dubiosen Seiten. Meine frühere illegale Sammelleidenschaft von Datenmüll wie z.B. Musik und Filmen. Dies alles sind Beispiele für meinen Kontrollverlust.

Viele davon habe ich gelernt zu ändern oder sein zu lassen, den meisten musste ein Kapitulieren und Akzeptieren voran gehen. Wenn ich eine Rangliste der Schädlichkeit für mich aufstelle, so sind die tödlichsten darauf für mich sicherlich der Alkohol und das Spielen. So sollte die oberste Priorität in meinem Leben sein, mich vor diesen Dingen – der tödlichen Krankheit SUCHT – zu schützen und alles dafür zu Tun nicht zu sterben und die Krankheit erneut ausbrechen zu lassen. Leider vergesse ich auch das allzu oft, all zu schnell.

Im Grunde ist mir die Sucht eine einfache, angenehme Krankheit, denn ich muss nur etwas weglassen und mich darum kümmern nicht wieder anzufangen.

Ein Leukämie-Patient braucht seine Dialyse, sonst stirbt er.

Ein Diabetiker braucht sein Insulin, sonst stirbt er.

Meine Medizin, sind die Meetings der Anonymen Gruppen, um mich täglich daran zu erinnern, an einer tödlichen Krankheit zu leiden und diese im Zaum zu halten und nicht mehr erneut ausbrechen zu lassen – sonst sterbe ich. Sei es durch körperliches Versagen beim Alkohol oder die aufkommenden und stärker werdenden Suizidgedanken in der Depression wenn ich durch mein Handeln nicht mehr zufrieden bin mit mir, und mich erneut in diese Abwärtsspirale begehe indem ich Rückfällig werde und dem nichts mehr entgegensetze, weil es mir stets mehr und mehr gleichgültig wird was mit mir oder meinem Umfeld passiert. Meine Krankheit ist also unheilbar, aber sie kann zum Stillstand gebracht werden. 

Was für ein Glück ich doch habe „nur ein süchtiger“ zu sein, denn anderen ergeht es sicherlich nicht so einfach!

Gute 24 Stunden

euer Freund Sebastian

Ich bin Mathias, 45 Jahre und seit 4 Jahren spielfrei.

Vor ca. 15 Jahren, also mit ungefähr 30 Jahren stand ich auf dem Gipfel meines Lebens, sollte man meinen. Ich war verheiratet, hatte zwei Kinder, einen festen Job und wir lebten in einem Reihenhaus. Nach außen hin perfekt, jedoch innerlich zerbrochen habe ich auf dem vermeintlichen Gipfel eine verlockende Straße mit bunten Lichtern und einnehmender Musik gefunden. Diese Straße führte vom Gipfel herab ins Ungewisse, war aber auch zu verlockend, als dass ich sie nicht ausprobieren wollte.

Sie war beleuchtet, asphaltiert und ging nur leicht bergab.

Je länger ich diese Straße nahm, umso weniger spürte ich das wirkliche Leben. Aber je länger ich sie nahm, umso steiler wurde sie auch.

Ich kam immer wieder an Gabelungen, rechts die asphaltierte Straße nach unten und links ein steiniger, unbeleuchteter Weg nach oben. Mir war klar, dass die Straße rechts von mir der einfachere Weg war, aber dieser führte auch ins Verderben bis schließlich in den Tod. Ich war nicht bereit, die bequeme, beleuchtete Straße zu verlassen, da ich nicht gelernt hatte, mit den Unwegsamkeiten dieser Welt umzugehen. Es fiel mir so viel leichter, mich einfach weiter auf der Straße nach unten treiben zu lassen und alle Weggabelungen zu ignorieren.

So fuhr ich 10 Jahre immer schneller bergab und dem sicheren Tod entgegen, bis der reale Tod mir meine Mutter nahm.

An diesem Punkt in meinem Leben stand ich wieder vor der Weggabelung. Rechts – beleuchtet, asphaltiert, einfach. Jedoch nach unten ins sichere Verderben.

Links der mittlerweile sehr steile, steinige, unbeleuchtete Pfad nach oben.

Und ich wagte die ersten Schritte auf dem Pfad, meiner Mama zuliebe. Er war schwer, er war hart und es kostete Mut. Aber ich ging weiter. Ich stolperte, stand auf und ging weiter.

Immer wieder konnte ich einen verlockenden Blick auf die asphaltierte, beleuchtete Straße werfen.

Ich war mir jedoch sicher, dass aus dem steinigen, steilen und unbeleuchteten Pfad irgendwann auch eine ebene Straße wird, vielleicht sogar beleuchtet.

Immer wenn ich stolperte, stand ich auf und sagte mir – du warst dir zu sicher, du musst deine Füße wieder etwas mehr anheben, achte wieder mehr auf den Weg, dann stolperst du nicht.

Und so ist es bei den GA.

Wir reden über unseren Weg nach oben, über die Gefahren und Stolpersteine des unbeleuchteten Pfades, übers Hinfallen und übers Aufstehen.

Wir reden über die, die weiter oben sind als man selbst, über die, die erst wenige Schritte auf dem steinigen Pfad laufen. Wir sprechen über die, die die Straße bis zum Ende gefahren sind. Wir reichen Menschen die Hand, die die Straße nach unten verlassen wollen und helfen Freunden wieder auf, die gestolpert sind.

GA hilft mir Woche für Woche, meine Füße zu heben, den Fokus nicht vom unbeleuchteten Pfad zu nehmen und weiterzugehen.

Moin, mein Name ist Jürgen, ich bin süchtig, Spieler und spielfrei.

Ich bin zur GA, den Gruppen, aus purer Not und Hoffnungslosigkeit, gekommen.

Ich habe ein Raum/Ort vorgefunden, der mir Ruhe und Sicherheit gibt. Ich werde nicht bewertet, beurteilt, bekomme keine Ratschläge. Ich darf reden und werde nicht gestört. Wir teilen Erfahrung und Hoffnung in den Meetings.

Heute gibt es keine „pure Not“ mehr, die Anforderungen im Alltag sind herausfordernd aber mit Hoffnung gepaart.

Ob in den Online/Telefon- Meetings oder im Meeting vor Ort. Ich treffe auf Menschen, die mich und die ich verstehe.

Ohne viel Erklärung.

Ein Teil meines Alltags, die wie Aufstehen zur Selbstverständlichkeit gehört.

Vortrag anlässlich der Tagung „Glücksspielsucht“

im AKOchsenzoll am 12.3.1993

von Ulla Fröhling

Ich möchte Ihnen nicht nur – wie im Programm ausgedruckt – eine kurze Geschichte der Hamburger AS-Selbsthilfegruppen geben. Ich will Ihnen auch die wichtigsten Antworten des Senats auf eine aktuelle Anfrage zum Thema Glücksspiel in Hamburg vorstellen.

Wie Sie sehen, habe ich meinen Hut mitgebracht. Den will ich nachher ziehen. Dafür muss ich ihn natürlich erstmal aufsetzen. Da ich immer auch für die feuilletonistische Seite einer ernsten Sache zuständig bin, kann ich mir das erlauben.

Mein Hut symbolisiert vieles.

Anwesende Vertreter der Kostenträger mögen darin das Gefäß sehen, mit dem stationäre und ambulante Betreuer unterwegs sind, um überhaupt noch Gelder für Spielertherapien zusammenzubetteln.

Er steht aber auch für das Füllhorn des Hamburger Fiskus, der im letzten Jahr 17,9 Millionen Mark aus dem Betrieb von Geldspielautomaten eingenommen hat. 8260 dieser Kästen stehen in Hamburg. Damit Sie sich plastisch vorstellen können, was das bedeutet, habe ich – nach einer Idee von Frau Füchtenschnieder – diese Geräte ins Verhältnis gesetzt zu Kästen, die Ihnen allen bekannt sind: Telefonzellen und Briefkästen. Dabei kam heraus, dass sich 523 Hamburger Bürgerinnen und Bürger einen Briefkasten teilen müssen, 404 eine Telefonzelle, aber nur 205 ein Geldspielgerät. Diese Zahl scheint den Senat selbst beeindruckt zu haben, denn er hielt es für geboten, eine Erklärung anzufügen: Hamburg, sagt er, wird regelmäßig von einer großen Zahl von (Tages)Touristen besucht. Das sind also gar nicht die Hamburger, die hier in den Kneipen und Daddelhallen spielen, das sind die Touristen. Geldspielgeräte sind inzwischen bundesweit flächendeckend verteilt, in den alten wie in den neuen Bundesländern. Selbsthilfegruppen aus Stade und Schwerin, aus Lübeck, Elmshorn und Rostock, aus Lüneburg und Diepholz wissen, dass man nicht nach Hamburg kommen muss, um zu daddeln. Das kann man überall.

Geldspielgeräte werden gering besteuert: 270 Mark im Monat pro Gerät in der Spielhalle – so ein Gerät kann bis zu 5000 Mark einbringen -, und 80 Mark an anderen Standorten.

Viel mehr, nämlich 100 Millionen Mark flossen 1992 aus der Hamburger Spielbank und ihren drei Dependancen in das Füllhorn. Genau waren es 96.971.000 Mark, wie der Senat gerade mitgeteilt hat. Dazu dürfen 20.000 Spieler ihr Scherflein nicht mehr beitragen: sie sind an der Hamburger Spielbank gesperrt worden oder haben sich selbst sperren lassen. Viele von ihnen haben unkontrolliert, süchtig gespielt, und nicht nur wie der Durchschnittsbesucher 130 Mark, sondern sehr viel mehr im Casino zurückgelassen. 20.000 gesperrte Spieler. Natürlich muss für diese fehlende Klientel ein Ausgleich geschaffen werden: Eine Million Mark gibt die Spielbank jährlich für Werbung aus.

Bei so vielen Einnahmen kann sich die Stadt natürlich nicht lumpen lassen, sie greift in ihren Hut und zieht etwas heraus. Was mag das sein? Großzügige Erweiterung
der stationären Therapiemöglichkeiten im AK-Ochsenzoll? Zusätzliche ABM-Stellen im ambulanten Bereich – ach, man wäre ja schon dankbar, wenn die bestehenden erhalten blieben. Nein, es ist eher ein weißes Kaninchen, was zum Vorschein kommt: 1000 Mark gibt Hamburg jährlich aus, um die Selbsthilfegruppe „Spieler helfen Spielern“ zu unterstützen. Die Anonymen Spieler dagegen, die Gamblers

Anonymous, nehmen keine öffentlichen Mittel, sondern tragen sich durch eigene Spenden, was ihnen zur Ehre gereicht. Hier kann ich nun zum ersten Mal meinen Hut ziehen.

Aus dem Hut wird der Hamburger Senat vielleicht seine Meinung zaubern, wenn am 26. März im Bundesrat darüber abgestimmt wird, ob der Einsatz an Geldspielgeräten um 33 Prozent erhöht wird. Eben jener Geräte, an denen sich viele von Ihnen oder von Ihren Patienten auch ohne diese Erhöhung schon um Geld, Besitz, Beruf, Beziehung gespielt haben. Falls der Bundesrat – unter dem Druck der Automatenindustrie – dieser Erhöhung zustimmt, ließe sich als einziges Plus auf der Verliererseite ein Zeitgewinn preisen: Man kann sich dann um ein Drittel schneller totspielen. Auf der Seite der Gewinner, der Automatenindustrie, stünde ein Umsatzplus von annähernd einer Milliarde Mark (errechnet in Anlehnung an Jahrbuch Sucht ’93, S. 102) zu Buche.

Am 19. Februar, zum Zeitpunkt der Kleinen Anfrage der Abgeordneten Anna Bruns zum Thema Glücksspiel in Hamburg, hatte der Senat noch nicht mit seiner Meinungsbildung begonnen, war aber immerhin schon der Ansicht, (Zitat:) die „Wertung ist nicht auszuschließen“, dass eine solche Erhöhung des Spieleinsatzes einen zusätzlichen Spielanreiz bedeute. Da die Selbstgestellte Aufgabe des Staates ausdrücklich ist, die Spielleidenschaft des Menschen in Grenzen zu halten, bin ich eigentlich zuversichtlich, dass sich der Senat dieser behütenden Aufgabe bewusst ist und dementsprechend gegen die Erhöhung stimmen wird.

Sonst kann er, möchte ich fast sagen, um im Bild zu bleiben, seinen Hut …nehmen.

Aber dann wird mir nicht nur die Automatenindustrie wieder übertriebene Emotionalität vorwerfen. Die allerdings will ich mir nicht nehmen lassen, schließlich habe ich mich zehn Jahre lang bemüht, Spielern, die sich ihre Gefühle kaputt gespielt hatten, wieder welche … einzuhauchen.

Mein Rückblick auf diese zehn Jahre, in denen ich die Entwicklung der Gruppen beobachten, die Bewegung begleiten konnte, gibt Ihnen daher auch eher Stimmungen, Impressionen wieder.

Zehn Jahre:

Im März 1983 gab es zwei AS-Gruppen (Anonyme Spieler) in Hamburg und Tostedt. Eine bestand schon in Lübeck und eine in Bremen, aber das wussten wir nicht. Im Oktober 1984 waren es 15 Gruppen bundesweit. Im Januar 1985: 17. Im Oktober ’87: 54, im Januar ’88: 66. Im April ’92 waren es 78, jetzt seid Ihr bei 96 Gruppen mit

einigen tausend Mitgliedern angekommen, inklusive neue Bundesländer.

Eine Gemeinschaft, die sich selbst trägt, mit funktionierendem Kontaktnetz, jährlichen Deutschlandtreffen, Landesgruppentreffen, Rundbrief, regelmäßigen

Diensten wie Telefondienst, Übersetzungsteam, Literaturteam, Öffentlichkeitsarbeit und so weiter.

Und jetzt kann ich wieder den Hut ziehen und „alle Achtung“ sagen, denn, ganz ehrlich, ich hätte es Euch am Anfang nicht zugetraut. Der Anfang war Chaos.

Der Anfang in Hamburg, das waren zwei Paare: ein Ehepaar und lesbisches Paar. Eine Spielerin und ein Spieler mit ihren Lebensgefährtinnen. Es gab kein Geld, keine Räume, keine Unterstützung Aber viel Streit, Kontrolle, Misstrauen. Viel Konkurrenz, viele Lügen und unglaublich viel Zigarettenqualm. Und es gab den grandiosen Willen, den Politikern, Medizinern, der Automatenindustrie mal richtig die Meinung zu stoßen, ihnen zu sagen, was Sache ist, und bei der Gelegenheit mal eben die Welt zu verändern. Ich hatte die eine Spielerin beruflich, als Journalistin, kennen gelernt

und half ihr beim Aufbau der ersten Hamburger Gruppe. Außerdem half ich ihr -ahnungslos – noch, möglichst viel Geld aus möglichst vielen Institutionen raus zu locken, so dass sie möglichst lange weiterspielen konnte. Das passierte aber an einer anderen Ecke des Bewusstseins. Ihres und auch meines Bewusstseins. Alle Spieler dieser Anfangsphase spielten noch. Sie schlossen sich zusammen, um aufzuhören, viele schafften es in der ersten Zeit aber nicht. Die Anfangsphase war geprägt durch diese beiden Seiten, Hoffnung und Verzweiflung, Lüge und Wahrheit.

Dann war da noch diese wütende ältere Dame in Tostedt. Die wollte am liebsten alle Spielcasinos in die Luft jagen, und dazu noch gleich eine Bombe nach Bonn. Sie hatte ihr Vermögen in alle deutschen und umliegenden Spielcasinos getragen, und nun hatte sie einen (un)-heiligen Zorn. Zusammen haben wir Neueröffnete Spielhallen gestürmt und Flugblätter verteilt. Von der so genannten Würde des Alters war nichts zu spüren, wenn Maria, die hier viele kennen, losgelassen war. Und so ist es auch heute noch: Maria, inzwischen 73, lässt herzlich grüßen, sie wäre gern gekommen, ist aber krank. Eine Botschaft hat sie mir mitgegeben: Die sollen aufhören! Aufhören zu spielen. Sie selbst hat aufgehört. Damals schon. Und hat mit ihrer Wut manchen Spieler das Fürchten gelehrt Es war tatsächlich so, dass sich in der Anfangszeit – 1983, 1984 – einige Spieler nicht mehr in Spielhallen getraut haben, aus Angst, Maria würde auftauchen wie der Zorn Gottes und sie aus der Halle zerren.

Von den AS- oder GA-Prinzipien, wie wir sie heute kennen, war damals also noch nichts zu spüren.

Fast ein Jahr dauerte es, bis sich getrennte Spieler- und Angehörigengruppen bildeten. Die Trennung war der erste wichtige Entwicklungsschritt. Bis dahin hatten sie zusammengehockt, um sich weiszumachen, dass sie sich endlich die Wahrheit

sagen würden, dabei waren die Spieler noch dringend darauf angewiesen, dass ihre Angehörigen ihnen ihre Lügen glaubten. Und die Angehörigen hatten fürchterliche Angst, über irgendetwas anderes zu reden als über ihre Spieler.

Dann haben wir GA-Material in den USA und in England bestellt und uns ans Übersetzen gemacht. Dabei kam es zum zweiten kritischen Punkt: Die Spieler

stellten fest, dass sie Gott nicht brauchten. Sie schmissen ihn aus dem alten anerkannten AA-Programm raus. So kam es, dass die anderen A-Gruppen ein Zwölf-Punkte-Programm haben, die Spieler in der Anfangsphase aber mit zehn Punkten ausreichend bedient waren. Fanden sie. Einige hier erinnern sich noch an die wilden Diskussionen um Gott. Inzwischen ist er – sozusagen in Ehren – wieder aufgenommen worden – so wie jeder ihn versteht.

Die Gruppenabende damals, 1983, 84, 86 sind schon so etwas wie ein Mythos geworden, das waren auch Sternstunden für mich: Da sitzt der deutsche Jurist aus feiner Hamburger Familie mit dem italienischen Gastarbeiter, den er sonst nie kennen gelernt hätte, an einem Tisch zusammen mit dem Croupier aus einem illegalen Spielclub in St. Pauli, der den Juristen vor einem halben Jahr noch abgezockt und betrogen hat. Der Jurist merke das damals, sagte aber nichts, er wollte ja weiterspielen. Nun ist der Croupier arbeitslos und stellt fest, dass auch er abhängig ist vom Glücksspiel. Früher hat er die erspielten Tausender in derselben Nacht im Club nebenan verspielt. Jetzt ist er ohne Job und muss das Geld, das er nicht hat, trotzdem weiter verspielen. Und da erinnert er sich, dass die Spieler an seinem Tisch immer, was von AS erzählten und dass sie besser dahin gehen sollten statt zu ihm. Und so treffen sie sich alle wieder in der Selbsthilfegruppe und merken, dass sie keine Gegner sind, sondern denselben Feind haben.

Im Herbst ’83 und Herbst ’84 bot die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren zum ersten Mal auch Spielern ein Forum. Einige Betroffene erschienen, lernten sich kennen, Gerhard Meyer war auch da, der hatte ihre Krankheit beschrieben. Da kriegten sie Mut, etwas von sich zu erzählen. Und wurden abgebürstet von offiziellen Sucht-Fachleuten. Ein Schlüsselerlebnis auch für mich, denn hatten nicht die süchtigen Spieler in Wirklichkeit die größte Kompetenz auf dem Gebiet Spielsucht? Wieder eine Wut, die zur Tat führte: Mit Hilfe der Hamburger Gruppen habe ich ein Buch zum Thema geschrieben, habe im Grunde nichts anderes gemacht, als ihnen das Wort zu geben. Ich kann das sagen, ohne Schleichwerbung zu machen, denn das Buch „Droge Glücksspiel“ ist lange vergriffen.

Allerdings bringt es Fischer im Herbst als Taschenbuch wieder heraus.

In den nächsten Jahren haben sich die Spieler immer noch in manches eingemischt, auch in die Auseinandersetzung, ist pathologisches Glücksspielen nun eine Sucht, die lebenslange Abstinenz erfordert, oder ist es eine neurotische Störung, und man kann lernen, kontrolliert zu spielen?

Sie haben auch noch mitgemischt, als es darum ging, in den Medien ein neues Spielfeld zu entdecken. Spieler sind Meister im Erkennen, Durchschauen und Unterwandern von Spielregeln. Sie spielen mit allem, sogar, wie Sie wissen, mit Therapie. Und schon längst mit der Presse. Die Presse und die Spieler ergänzen sich auf ungute Weise. Leider sind es meist die Spieler, die den Preis zahlen. Viele von ihnen haben die traurige Erfahrung gemacht, dass die Zusammenarbeit mit der Presse geradewegs in den Rückfall führte. Etwas, das sie nach manchmal zehn Jahren erst als problematisches Verhalten erkannt hatten, das süchtige Glücksspiel, das zu ihrer Zerstörung führte, wurde durch die Medien plötzlich wieder aufgewertet: Sie waren wieder was Tolles, nämlich Spieler. Außerdem konnte man beim Fernsehen auch noch gut Kohle abzocken. Nur die wenigsten, die damals Interviews gegeben haben oder an Talkshows teilgenommen haben, haben im Anschluss keinen Rückfall gebaut.

Nach dieser aufregenden Phase, in der das Ehepaar aus der Anfangszeit, Sigrid und Wolfgang, die gesamten Geschäfte, Briefwechsel etc. geführt hat, wurde die Bewegung so groß und der Arbeitsaufwand so intensiv, dass sich 1987 ein Verein gründete, „Anonyme Spieler Interessengemeinschaft e.V.“, um die inzwischen nicht unerheblichen Spendengelder zu verwalten. Es wurden ein Büro eingerichtet, ein Anrufbeantworter angeschafft, regelmäßig Briefe beantwortet, Telefondienst gemacht. Am 22.9.1987 gab man sich eine Satzung, wie es gutes deutsches Vereinsrecht will.

Diese Satzung wollte eine Zeitlang, dass ein Nichtspieler die Geschäfte führte, meine Freunde haben mir diese ehrenvolle Nerven-Zerreißprobe von 1989 bis 1991 übertragen. Dann haben sich die Spieler das zu Recht selbst zugetraut.

Rund 7- bis 8000 Mark sind durchschnittlich auf dem Spendenkonto, davon werden Miete, Rundbriefe, Telefonkosten, Ausbau der Kontaktstelle, der Druck der Broschüren getragen und auch schon mal die Reisekosten für Walther Lechler, wenn er zu einem Vortrag eingeladen wird.

An dieser Stelle eine Vergleichszahl: 5,662 Milliarden Mark hat der Staat 1992 durch das Glücksspiel an Steuern eingenommen, etwa 17 Milliarden haben die Bundesbürger im letzten Jahr verspielt.

Da wir uns hier etwas auferlegt haben, von dem die Glücksspielautomatenindustrie immer viel redet, ohne Entsprechendes zu tun, nämlich Selbstbeschränkende Maßnahmen, muss ich jetzt abrupt zum Schluss kommen. Aber nicht ohne meinen Eindruck von der Entwicklung über diese zehn Jahre zusammenzufassen. Wieder mal ist es eher eine Stimmung, ein Gefühl: Alles ist stiller geworden, weniger Aufregung, weniger Kämpfe, obwohl es auch jetzt noch durchaus heftig werden

kann. Und viel weniger öffentliche Stellungnahmen. Das hängt zusammen mit den 12 Schritten und den 12 Traditionen der GA-Anonymen Spieler (Gamblers Anonymous, wie sie sich jetzt nennen, um ihre Zugehörigkeit zu der Selbsthilfeorganisation deutlich zu machen, die sich – vom amerikanischen und englischen Raum ausgehend – weltweit ausbreitet).

Mir ist ein altmodisches Wort eingefallen, das ich kaum aussprechen mag: Demut. Weniger Wut, mehr Demut stelle ich bei den alten Hasen fest, erfreut und liebevoll stelle ich das fest, wobei ich Euch trotzdem immer wieder übelnehme, dass Ihr es nicht geschafft habt, auch Platz für die alten Häsinnen zu machen. Frauen bleiben oft nicht lange bei Euch. Wenn ich mir den Anteil der Spielerinnen in den Casinos angucke, müsste ihr Anteil in den Selbsthilfegruppen entsprechend sein. Darüber bin ich böse, wie Maria sagen würde. Wahrscheinlich gelingt es Euch nicht, Frauen ein Heim zu schaffen, weil Ihr zu sehr gewohnt seid, dass sie Euch eins machen.

Ich könnte zum Schluss noch darauf hinweisen, dass man diesen Hut noch verwenden kann, um freiwillige Spenden zu sammeln. Denn alle, die diese Tagung vorbereitet haben, haben es umsonst gemacht, die Referenten erhalten nicht einmal ihre Reisekosten erstattet, denn wenn noch nicht einmal Spielertherapien finanziert werden, ist an Reisekosten nicht zu denken. Sie aber bekommen diese kostbaren Informationen alle kostenlos. Ich spare mir aber diese Bemerkungen, denn das hieße, meine Hutmetapher nun wirklich zu Tode zu reiten.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit